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Verpasste Chancen in der Liebe, des Lebens, der Job-Möglichkeiten. Manchmal ist es schlechtes Timing. Manchmal aber auch eine bewusste Entscheidung.

Von frühester Kindheit an wurde uns gesagt, wir können werden, was wir wollen: Astronaut, Chef, Professor, Tanzlehrer, Verkäufer, Dragqueen – heutzutage ist fast alles drin. Die Möglichkeiten erscheinen grenzenlos. Aber warum fällt es uns so schwer, uns auf eine Sache festzulegen? Ist es einfach nur die Angst, die falsche Wahl zu treffen? Da wir mit jeder Entscheidung, die wir treffen, parallel andere Optionen ausschließen?

Was ist nun aber, wenn eine der anderen Alternativen schlussendlich doch besser zu uns passen würde? Wenn wir uns jetzt für den falschen Weg entscheiden, verbauen wir uns damit die Chance, den richtigen jemals zu finden? Gibt es in diesem Zusammenhang überhaupt richtig und falsch?

Angst macht ja eigentlich auch nur der Gedanke, sich für etwas falsches zu entscheiden und dementsprechend mit der Entscheidung in der Retrospektive unglücklich zu sein. Dietrich Bonhoeffer hat dazu einmal gesagt: „Der größte Fehler, den man im Leben machen kann, ist immer Angst zu haben, einen Fehler zu machen.“ Und, was lernen wir jetzt daraus?

Verpasste Chancen durch falsche Entscheidungen?

Viele Entscheidungen unseres Lebens werden uns abgenommen: sei es bedingt durch unseren Kontostand, unseren Zeitvorrat oder durch anderweitige Verpflichtungen, denen wir nachkommen. Aber was ist mit den weitaus schwerwiegenderen Entscheidungen, die zum Beispiel die Berufs- und Partnerwahl betreffen? Einfaches „Fakten abwiegen“ hilft hier nicht sonderlich weiter. Sind wir vielleicht mittlerweile einfach zu verwöhnt, uns festzulegen? Oder wollen wir einfach wirklich alles? Sicherheit und Freiheit, Unabhängigkeit und feste Beziehung, einen tollen Job und unabhängiges Work and Travel-Leben? Jetzt mal Butter bei die Fische: Was wollen wir eigentlich? Ich meine, so richtig. Langfristig. Weiß das einer von euch?

In einer Welt, in der fast alles möglich zu sein scheint – man alles machen, erleben und tun kann, was man möchte – ist es mitunter gar nicht so leicht, sich festzulegen. Es ist ja auch so, dass wir in unterschiedlichen Familienverhältnissen und Umgebungen aufwuchsen, bestimmte Werte und Traditionen mitbekommen haben und in einem bestimmten sozialen Milieu leben. Nahezu unser ganzes Wissen ist erworben, da wir beigebracht bekommen haben, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Der Soziologe Pierre Bourdieu bezeichnet dieses inkorporierte Kapital als Habitus. Wir werden also unbewusst in unserem Denken, Fühlen, unseren Ansichten und unserer Wahrnehmung von Geburt an durch unsere Lebenswelt beeinflusst (Bourdieu 1997: Körperliche Erkenntnis. In: Meditationen – Zur Kritik der scholastischen Vernunft). Mit Bourdieu gesprochen gibt es demnach mehrere Begrenzungen, die einen Menschen dazu anhalten, seine Entscheidungen seiner Sozialisation entsprechend zu treffen: Man stellt bestimmte Erwartungen an sich selbst oder unterliegt bestimmten Erwartungen von außen, denen man gerecht werden möchte. Dabei ist es oftmals gar nicht der Gedanke, es wirklich nur für sich selber zu tun, sondern mit der eigenen Positionierung innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung verbunden bzw. deren Repräsentanz und Akzeptanz. Der Mensch hält und passt sich dabei also an soziale Strukturen an, um als bestimmtes Subjekt mit bestimmten Attributen anerkannt zu werden – genau diese soziale Perspektive bestimmt das Dasein.

Überträgt man diese Gedanken von Bourdieu auf die Fragestellung, warum wir uns so schlecht entscheiden können, lässt sich schlussfolgern, dass wir niemals so wirklich frei sein können. Wenn wir glauben, dass wir unsere Entscheidungen für uns alleine treffen – unabhängig von den Blicken der anderen – machen wir uns etwas vor. Man kann sich nie ganz freimachen von bestimmten Idealen, die uns im Kopf herumschwirren; man hat bestimmte Vorstellungen im Kopf, die durch unsere Sozialisation geprägt wurden.

Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein.

Nach dem Philosophen Albert Camus ist der Mensch Sklave seiner eigenen Freiheit. Je mehr er versucht seinem Leben einen Sinn zu geben – je mehr er hofft und sich anstrengt, dieses oder jenes zu erreichen – desto kürzer werden die Ketten, die er sich selbst anlegt (Camus 1959: Der Mythos von Sisyphos).

Jean-Paul Sartre sieht die Freiheit an erster Stelle als eine Verpflichtung an, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Die Aufgabe des Menschen besteht demnach darin, sich seine eigene Welt selbst zu erschaffen, indem er sie für sich selbst entwirft. Die Freiheit des Einzelnen ist also die Wahl seiner selbst (Suhr 2001: Jean-Paul Sartre – Zur Einführung). Das bedeutet, dass der Mensch sich selber entwerfen muss und dieser Entwurf in seinen eigenen Händen liegt. Das bedeutet aber auch, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, seine ursprüngliche Konstruktion zu überarbeiten und zu verändern. Es gibt nach Sartre keinen Determinismus. „Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, anderweit aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für alles verantwortlich ist, was er tut“ (Sartre 1947: Ist der Existenzialismus ein Humanismus?). Das Bewusstsein des Menschen ist also der Ursprung der menschlichen Freiheit.

Die Suche nach sich selbst wird von unterschiedlichen, individuellen Faktoren beeinflusst: von der Herkunft, den materiellen Verhältnissen, von der leiblichen Verfassung und von bestimmten geschichtlichen Vorkommnissen und Ereignissen der gegenwärtigen Zeit. Laut dem existenzphilosophischen Ansatz von Sartre ist der Mensch also frei. Er besitzt die Möglichkeit, sein Leben selbst zu wählen, zu gestalten und zu versuchen, das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen. Dabei soll der Mensch aber nicht egoistisch oder selbstsüchtig handeln – sondern Verantwortung für sich selbst und sein Umfeld tragen. Karma Baby.

Individualisierung ist demnach ein Prozess, zu dem jeder Mensch gezwungen wird. Das umschließt die persönliche Entwicklung und Inszenierung, Fragen zur Lebensgestaltung sowie Entscheidungen über Einbindungen in bestimmte Netzwerke. Man muss sich also immer wieder die Fragen stellen: Wer will ich sein? Wie will ich sein? Wo will ich sein? Mit wem will ich sein?

Wir hinterfragen uns und unser Leben heutzutage einfach viel mehr, da wir ganz andere Möglichkeiten der Lebensgestaltung haben als zum Beispiel die Generationen unserer Mütter und Großmütter. Aber schließlich wäre es doch schade und undankbar, wenn wir diese Fülle an Möglichkeiten nicht nutzen würden. Oder etwa nicht?

Die Vielfalt der Möglichkeiten und Chancen

Wir sind dabei aber so damit beschäftigt, in allem immer besser zu werden, dass wir ganz vergessen, uns darauf zu besinnen, was wir wirklich gut können. Worin wir wirklich gut sind. Und was uns vor allem Spaß macht. Wenn wir in der Lage sind, uns selber zu konstruieren, warum besinnen wir uns dann nicht viel öfter auf unsere Stärken, anstatt zu versuchen, unsere Schwächen zu minimieren?

Wie können wir diesen Kreis durchbrechen? Ich glaube, es geht nur, wenn man ehrlich zu sich selber ist. Das ist nicht leicht, nicht immer schön und vor allem nicht immer nachvollziehbar. Aber es ist das Wichtigste und Ehrlichste, was ihr für euch selber tun könnt. Stellt euch doch bitte von Zeit zu Zeit einfach folgende Frage: „Was will ICH? Was erwarte ich von meinem Leben?“ Macht das Smartphone, das Tablet, den Laptop und den Fernseher aus – und versucht, zur Ruhe zu kommen. Ohne Freunde, Familie oder Kollegen um Rat zu fragen. Die Antwort werdet ihr nur bei euch finden. Tief in euch drinnen. Ich meine, in 100 Jahren sind wir eh alle tot. Es wird also höchste Zeit, mal etwas mutiger zu sein und der Stimme in uns zu vertrauen.

Wisst ihr: Wenn ich eines im Leben gelernt habe, dann, dass die schönsten Wege des Lebens sich aus Strecken ergeben, die man eigentlich nicht hätte laufen wollen, weil sie auf den ersten Blick zu „steinig“, zu „anstrengend“ oder zu „mühsam“ erschienen. Aber es sind eben genau diese Wege, die uns wachsen lassen. Die uns zeigen, dass wir uns auf uns verlassen können. Dass wir einfach nur daran glauben müssen, dass wir es schaffen können. Wir können nicht alles vorher wissen und alles genauestens planen, Fehler gehören zum Leben dazu. Manchmal trifft man Entscheidungen, die sich später als falsch herausstellen. Und dann passiert es ganz automatisch, dass die ehemalige „zweite Wahl“ in einem besseren Licht erscheint. Ist doch ganz logisch. Aber irgendwie betrügen wir uns doch damit nur selbst. Wenn die zweite Wahl uns ursprünglich so umgehauen hätte, hätten wir uns schließlich für sie und nicht für die andere Möglichkeit entschieden. Sei es bei der Berufswahl, bei der Partnersuche oder bei der Auswahl der richtigen Peeptoes. Jetzt mal im Ernst: Irgendwas ist doch immer. Es gibt eben nicht 100% perfekt. Aber das würde das Leben auf lange Sicht ja auch langweilig machen. Ist es nicht so? Versteht mich nicht falsch: Reue gehört zum Leben dazu. Natürlich habe ich auch schon einige Dinge bereut: die Kurzhaarfrisur in der 7. Klasse, dem falschen Mann nachzugeben und den Richtigen ziehen zu lassen, die fürchterlichen Plateau-Buffalos in den 90-er Jahren oder diese vier Brownies in Amsterdam alle auf einmal in mich reinzustopfen – nur, weil ich Hunger hatte. Aber hey, das gehört eben dazu. Dadurch lernen wir ja auch, uns beim nächsten Mal vielleicht anders zu entscheiden. Es beim nächsten Mal vielleicht ein bisschen besser zu machen.

Ich weiß doch auch nicht, was das Richtige ist. Aber soll ich euch mal was verraten: das weiß keiner. Das wissen wir doch immer erst im Nachhinein, wenn wir es probiert haben. Also hört auf, euch den Kopf darüber zu zerbrechen, was wahrscheinlich das Beste ist. Macht einfach. Macht das, was ihr für richtig haltet. Was sich für euch richtig anfühlt.

Wir sind so darauf bedacht, keine Fehler zu machen und immer das Richtige zu tun, dass wir vergessen, dass Fehler zum Leben dazu gehören. Fehler menschlich sind. Und somit vollkommen in Ordnung. Macht Fehler Leute! Nur dadurch könnt ihr daraus lernen. Ich weiß, wir wollen gut sein. Uns von der Masse abheben: Optimierung als gesellschaftlicher Imperativ. Wir wollen unbedingt in den Recall, dessen Casting wir selber durchführen. Wir sind Teilnehmer, Produzent, Styling-Berater und Zuschauer unseres eigenen Lebens. Betrachten es, als wäre es planbar, machbar und gestaltbar nach dem eigenem Ermessen.

Wirklich „frei sein“ bedeutet aber, sich von der Gesellschaft und deren Erwartungen zu lösen. Ist das überhaupt möglich? Laut Bourdieu zu urteilen, bedingen sich Individuum und Gesellschaft – keines kann ohne das jeweils andere existieren. Wirklich „frei sein“ würde implizieren, die Ketten zu durchbrechen, die wir uns selber auflegen; oder eben auch auferlegen lassen. Wer sich ständig bemüht, externen Anforderungen Genüge zu leisten, wird nie wirklich erfahren, wo seine eigenen Stärken liegen.

Frei sein, der sein zu können, der wir sein möchten.

Wie kommen wir jetzt aus dieser Misere wieder heraus? Wie können wir lernen, dass wir nicht alles wissen, können und machen müssen? Eigentlich ist es doch gar nicht so schwer: Man muss nur loslassen können. Und zwar die eigenen Ansprüche, immer der Beste sein zu wollen. Vor allem müssen wir das schlechte Gewissen ablegen, nicht gut genug zu sein. Es eigentlich noch besser machen zu können, wenn wir uns doch nur ein kleines bisschen mehr anstrengen würden. Wir sollten uns nicht mit anderen vergleichen – sondern einfach mal entspannen und uns auf die eigenen Fähigkeiten besinnen. Gelassenheit walten lassen. Wir müssen nicht alles können.

Vielleicht sollten wir einfach mal tief durchatmen, aufhören uns über alles und jeden Gedanken zu machen und das Leben genießen. Uns darauf besinnen, was wir gut können und worin wir gut sind. Unsere Stärken ausbauen, anstatt uns über unsere Schwächen zu ärgern. Vielleicht sollten wir die vielen Chancen und Möglichkeiten als Geschenk sehen – und nicht als Bedrohung. Vielleicht sollten wir uns überraschen lassen und einfach leben. Vielleicht sollten wir einfach mal wieder lernen, auf unser Bauchgefühl zu hören, anstatt abzuwägen, was vermeintlich das Beste für uns wäre. Vielleicht sollten wir anfangen, uns selber zu vertrauen. Jetzt. Solange wir uns bemühen, mit Rücksicht und Toleranz durchs Leben zu gehen, werden wir uns schon für das Richtige entscheiden.

Vielleicht müssen wir uns auch einfach mal verlaufen, um den richtigen Weg zu finden. Vielleicht müssen wir Umwege machen, um zu merken, was wirklich wichtig ist. Um zu merken, was wir wirklich wollen. Vielleicht müssen wir Fehler machen, damit wir es beim nächsten Mal besser machen können. Vielleicht müssen wir einfach mehr küssen und wieder lernen, unbeschwerter zu sein. Vielleicht müssen wir aufhören, Probleme auseinanderzunehmen und wieder mehr Leichtigkeit in unser Leben integrieren. Vielleicht müssen wir wieder viel mehr träumen und daran glauben, dass das nächste Abenteuer bereits hinter der nächsten Ecke lauert, wenn man nur ganz genau hinsieht.

Und ganz vielleicht müssen wir auf die Schnauze fallen und in die falsche Richtung gehen, damit wir uns verlieben. In andere, in das Leben und vor allem: in uns selbst.

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